Wahrnehmung schlägt Wirklichkeit

Berlin, 19.05.2020 - Ein, zwei Gläschen Wein zum Essen, auf die jährliche Grippeimpfung verzichten – was als gefährlich oder beherrschbar wahrgenommen wird, beruht oft auf einer subjektiven Einschätzung. Die Faktenlage hat es gegen individuelle Ängste schwer. Wie sich die klaffende Lücke zwischen dem gefühlten und dem wissenschaftlich ermittelten Risiko verkleinern lässt.

Terrorismus – davor ängstigten sich noch vor zwei Jahren die Deutschen am meisten. 71 Prozent gaben in einer Umfrage der R+V-Versicherung an, sich vor terroristischen Anschlägen zu fürchten. Und auch im vergangenen Jahr blieb die Angst davor mit 59 Prozent weiterhin überdurchschnittlich hoch. »Gleichzeitig ist das Risiko, in Europa Opfer eines Terroranschlags zu werden, nach wie vor extrem gering«, sagt Prof. Dr. Ortwin Renn, wissenschaftlicher Direktor am Institute for Advanced Sustainability Studies (IASS) in Potsdam. Der Risikoforscher erklärt die verzerrte Wahrnehmung damit, dass sich der Mensch eher vor Risiken fürchtet, die er nicht aus Erfahrung kennt und nicht kontrollieren kann

Auch im vergangenen Jahr standen Risiken, die sich der eigenen Macht entziehen, ganz oben auf dem Ranking. An die erste Stelle schaffte es US-Präsident Donald Trump mit seiner Politik. »Deutlich überschätzt werden auch Risiken, die etwa von synthetischen Pflanzenrückständen ausgehen«, sagt Prof. Dr. Andreas Hensel, Präsident des Bundesinstituts für Risikoforschung (BfR). »Verkehrs-, Arbeits- oder Sportunfälle werden als Risiko deutlich geringer eingeschätzt als etwa Lebensmittel, obwohl die Zahlen von Toten und Verletzten in diesem Bereich eigentlich eine deutliche Sprache sprechen«, sagt Andreas Hensel. Das sei ein Hinweis auf eine erhebliche Diskrepanz zwischen den gefühlten Risiken und den auf wissenschaftlicher Basis tatsächlich ermittelten Risiken für die Gesundheit. Das BfR arbeitet seit seiner Gründung im Jahr 2002 nach der BSE-Krise daran, diese Lücke zu verringern. Die Stellungnahmen der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des Berliner Instituts zu einzelnen Risiken werden beispielsweise allgemein verständlich in Infokästen zusammengefasst. Ein Risikoprofil stellt dann Aspekte wie Gefahrenpotenzial, gesundheitliche Auswirkungen und Kontrollierbarkeit des Risikos durch den Verbraucher grafisch dar.

Stolpersteine der Risikobewertung Button: Infokorb-Ablage In den Infokorb legen

Wie Menschen Risiken bemessen, hängt von verschiedenen psychologischen Faktoren ab.  »Beispielsweise davon, ob es sich um ein Risiko handelt, das sie freiwillig eingehen und von dem sie meinen, dass sie es selbst beeinflussen können«, erläutert Andreas Hensel. Das gelte etwa für den Konsum von Alkohol, der auch eine krebsauslösende Substanz sei, für die man keine sichere Aufnahmemenge festlegen könne. Jedes Jahr sterben in Deutschland schätzungsweise 74.000 Menschen aufgrund alkoholbedingter Erkrankungen, meldet die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung. Doch diese gegenüber der Pestizidbelastung von Lebensmitteln mehr als tausendfach höheren Risiken werden als wenig besorgniserregend eingestuft: »Die meisten Menschen wissen zwar um die Gesundheitsgefährdung, unterschätzen aber die Größenordnung«, sagt Risikoforscher Ortwin Renn. Dinge, die einem vertraut seien, nehme man als weniger bedrohlich wahr

Viele Menschen glauben, sie hätten ein niedrigeres Risiko, einen Schaden zu erleiden, als andere.

Prof. Dr. Andreas Hensel, Präsident des Bundesinstituts für Risikoforschung (BfR)

Man spreche hier von »Optimism Bias«, also von optimistischer Fehleinschätzung, die bei der Risikowahrnehmung und dem daraus resultierenden Verhalten eine wichtige Rolle spiele.

Ähnliches gilt für die Grippe: In Deutschland gab es nach Angaben des Robert Koch-Instituts (RKI), das die Zahl der Grippefälle bundesweit erfasst, in der Grippesaison 2016/2017 mit 22.900 die höchste Zahl an Influenza-Todesfällen seit der Grippewelle 1995/1996. Eine wichtige Vorsorgemaßnahme ist die Influenza-Impfung. Die Ständige Impfkommission (STIKO) am RKI empfiehlt Menschen ab 60 Jahren, Bewohnern von Alten- und Pflegeheimen, chronisch Kranken wie Diabetikern, Schwangeren und medizinischem Personal die Impfung. Gleichzeitig nimmt die Impfmüdigkeit zu. Bei Erwachsenen und älteren Menschen ist der Impfschutz, gemessen an den Impfempfehlungen der STIKO, unzureichend. Auch das Krankenhauspersonal macht da keine Ausnahme: Online-Befragungen des RKI an zwei ostdeutschen Universitätskliniken brachten ans Licht, dass von rund 1.200 Befragten nur 40 Prozent gegen Influenza geimpft waren.

Aber welche Einschätzungen verhindern, dass sich Menschen impfen lassen?

Man könnte sagen, dass die Impfung ein bisschen Opfer ihres eigenen Erfolgs geworden ist.

Diplompsychologin Cornelia Betsch, Professorin für Gesundheitskommunikation an der Universität Erfurt

»Dadurch, dass so gut geimpft wird, treten viele Krankheiten gar nicht mehr auf«, sagt die Diplompsychologin Cornelia Betsch, Professorin für Gesundheitskommunikation an der Universität Erfurt. Dort erforscht die Wissenschaftlerin unter anderem, wie Impfskepsis entsteht. Impfstoffe haben Krankheiten wie die Pocken, an denen bis in die 1960er Jahre weltweit jährlich zwei Millionen Menschen starben, ausgerottet. »So kommt bei einigen Leuten das Gefühl zustande, dass das Impfen selbst riskanter sein könnte als die Krankheit, gegen die die Impfung schützt. Das kann für viele Menschen dazu führen, dass sie auch mal eine Impfung auslassen oder verschieben«, sagt Betsch.

Ein Mythos, der seit Jahren im Internet kursiert, ist, Impfungen könnten Autismus auslösen. Diese Angst fußt auf einer Studie des britischen Mediziners Andrew Wakefield aus dem Jahr 1998, die später als gefälscht entlarvt und zurückgezogen wurde. Ebenso hartnäckig hält sich laut Ortwin Renn der Irrglaube, dass, wer Krankheiten wie Masern, Mumps oder Röteln als Kind durchmache, die ganzheitliche Entwicklung des Kindes stärke. Wissenschaftliche Belege dafür gibt es nicht. Erwiesen ist dagegen, dass der Ausbruch von Erkrankungen, gegen die heute standardmäßig geimpft wird, die kindliche Entwicklung schwer in Mitleidenschaft ziehen kann – teilweise mit dauerhaften Organschäden. Trotzdem wird vielfach weltanschaulich und emotional über solche Risiken entschieden, die Fakten dabei schlicht ignoriert. 

Cornelia Betsch hat gemeinsam mit Dr. Robert Böhm von der RWTH Aachen und einem interdisziplinären Forscherteam erstmals systematisch untersucht, welchen Einfluss Impfempfehlungen auf das individuelle Impfverhalten haben. In einem kontrollierten Laborexperiment mit fast 300 Teilnehmern wurden im Rahmen der Studie wiederholte Impfentscheidungen simuliert. Den Teilnehmern, denen entweder die Rolle eines Hochrisiko- oder Niedrigrisikopatienten zugewiesen wurde, gab das Forscherteam unterschiedliche Impfempfehlungen. Das Ergebnis: »Die Impfbereitschaft der Hochrisikopatienten war am höchsten, wenn die Impfung nur ihrer Gruppe empfohlen wurde. Allerdings zeigte sich auch, dass Niedrigrisikopatienten weniger bereit waren zu impfen, wenn es nur eine Empfehlung für Hochrisikopatienten gab. Insgesamt war die Impfrate der Gesamtgruppe am höchsten, wenn es eine allgemeine Impfempfehlung gab«, fasst Betsch zusammen. Damit zeige die Studie ein wichtiges Dilemma auf, vor dem nationale Gesundheitsorganisationen stünden.

Mehr Transparenz in der Risikokommunikation Button: Infokorb-Ablage In den Infokorb legen

Die Kommunikation über gesundheitliche und andere Risiken ist ein wichtiges Thema: »Mit der Entwicklung der Medizin und der Medien hat sich die Situation gegenüber früheren Zeiten grundlegend verändert. Die Art und Anzahl nachgewiesener und vermuteter Gesundheitsrisiken hat sich vervielfacht«, betont Ortwin Renn, Co-Autor der Studie »Gesundheitsrisiken im gesellschaftlichen Diskurs«. Die Welt werde durch Globalisierung und Digitalisierung immer komplexer, und damit würden auch die Risiken immer vernetzter. »Das heißt, ich kann diese Risiken selber nur ein Stück weit durchschauen und muss mich auf andere für eine wissenschaftlich fundierte, objektive Einordnung des Risikos verlassen können.« Im Rahmen einer umfassenden Risikokommunikation hält der Wissenschaftler mehr Transparenz für wichtig – eine Forderung, der sich BfR-Präsident Andreas Hensel anschließt:

Für die Vertrauensbildung sind die transparente und laienverständliche Darstellung des Prozesses der Risikobewertung und die Offenlegung von wissenschaftlichen Unsicherheiten ganz entscheidend.

Prof. Dr. Andreas Hensel, Präsident des Bundesinstituts für Risikoforschung (BfR)

Für Ortwin Renn bedeutet das unter anderem, dass immer das absolute und das relative Risiko kommuniziert werden sollten. Gleichzeitig sei es wichtig, dass bereits in der Schule vermittelt werde, wie man Studien bewerte und Risiken richtig einschätze, »denn nur so ist eine risikomündige Gesellschaft möglich«.

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